Die Corona-Krise zwingt Schulen derzeit sich neu zu erfinden. „Durch die Schulschließungen wurden die digitalen Medien zur einzigen Möglichkeit, um den Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten“, sagt Prof. Dr. Ulrike Cress, Direktorin und Leiterin der Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion am IWM Tübingen. Sie weiß, dass viele Lehrer sich in den letzten Wochen erst einmal neu orientieren mussten und „eine ganz neue Schul- und Unterrichtskultur schafften“. Dabei ist die Tübinger Psychologin positiv überrascht, wie gut viele mit den neuen Bedingungen zurechtkommen. Warum sie in der Corona-Krise einen Digitalisierungsschub sieht, welche Maßnahmen Schulen und Lehrpersonen nun ergreifen müssen, damit alle Kinder von der digitalen Lehre profitieren und worauf die Landesregierungen jetzt achten sollten, erklärt die Lernforscherin im Podcast „Tonspur Wissen“ – jetzt anhören
Nicht alle Schülerinnen und Schüler profitieren vom Digitalisierungsschub
Von den vorwiegend positiven Effekten der jüngsten Entwicklungen in Bezug auf die voranschreitende Digitalisierung an den Schulen profitieren nicht alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen. „Die digitale Lehre und das Lernen zu Hause verstärken die Kluft zwischen Kindern aus bildungsnahen und bildungsfernen Familien“, berichtet die Lernforscherin. Gleiches gilt für den beim Umgang mit neuen Medien. „Jemand der sich gut organisieren kann, der gut lernt, wird die Medien nutzen, um sich noch besser zu organisieren, noch besser zu lernen, weil er noch viel mehr Möglichkeiten hat. Jemand, der diese Möglichkeiten nicht hat, sei es ökonomisch, sei es vom Bildungsstandort her - die Eltern können nicht helfen - fällt zurück.“ Diese digitale Kluft wird durch die jetzige Situation natürlich größer.
Der direkte Face-to-Face-Kontakt fehlt im digitalen Unterricht
Aber auch für die Lehrkräfte bringt der digitale Unterricht im Vergleich zur Präsenzlehre einige Herausforderungen mit sich. „Die Präsenz erleichtert die Orchestrierung von Unterricht, das heißt, der Lehrer weiß, was jeder im Raum tut“, so Prof. Dr. Ulrike Cress. Momentan stünden jedoch häufig noch keine geeigneten Tools zur Verfügung, die diese motivierende, individualisierende und überwachende Komponente des Lehrens übernehmen.
Die Medien machen eine andere Rolle der Lehrenden notwendig
Unabhängig von der Corona-Krise verändert der Einsatz digitaler Medien die Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern. Der „Lehrer wird immer mehr zum Lernbegleiter“, erklärt Prof. Dr. Ulrike Cress. Digitales Lehren und Lernen zieht ein andere Art von Wissensvermittlung nach sich. Statt wie bislang von der Lehrkraft und dem Schulbuch vorgegeben, was zu lernen ist, müssen Schülerinnen und Schüler sich in der digitalen Lehre verstärkt selbst Informationen suchen und Wissen selbstständig konstruieren. „Die Medien erlauben also sehr viel mehr an Selbstorganisation und Kreativität“, hält Prof. Dr. Ulrike Cress fest.
Lernen sollte nicht nur in der Schule stattfinden
Für Prof. Dr. Ulrike Cress sind die Vorteile digitalen Lernens klar – und diese Vorteile sieht sie nicht nur während der Corona-Krise: „Digitale Medien haben die Möglichkeit übergreifend Lernorte zu schaffen, das heißt Schule mit nicht schulischen Lernorten zu verbinden.“ Momentan ist es schwer, außerhalb von zuhause zu lernen, aber es wird auf kurze oder lange Sicht wieder möglich sein. Denn Lernen findet in dem ganzen Umfeld, in dem sich Kinder befinden, statt.
Lehrerinnen und Lehrer dürfen in puncto digitaler Unterricht nicht allein gelassen werden
„Lehrer konnten durch die Corona-Krise entdecken, was Digitalisierung alles leisten kann, und dass Digitalisierung, auch wenn sie mal Alltag ist, auch für einen Lehrer eine Erleichterung sein kann“, sagt Prof. Dr. Ulrike Cress. Jetzt kommt es darauf an, dass Schulen, Ministerien und Länder die durch die Krise angeschobene Digitalisierung auch weiterhin fördern und den Lehrern weitere Ressourcen an die Hand geben.
Das Gespräch ist Teil der Podcastreihe „Tonspur Wissen“, die in gemeinschaftlicher Produktion von t-online.de und der Leibniz-Gemeinschaft entsteht. Bis auf Weiteres erscheinen dort täglich von Montag bis Freitag immer am Morgen neue Episoden, in denen die Wissenschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld mit Leibniz-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen die neuesten Forschungsfragen diskutiert. Am 21. April sprach sie mit Prof. Dr. Ulrike Cress, Direktorin des IWM Tübingen und Leiterin der Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion über die Folgen des Corona-Virus auf das Lehren und Lernen an den Schulen.
Alle Podcast-Themen der Reihe rund um die Folgen des Coronavirus